Zeitmaschine Kirwa im Amberg-Sulzbacher Land

Immaterielles Kulturerbe als Veränderungsprozess

30. April 2024

Lesezeit: 9 Minute(n)

Text: Manuel Trummer Fotos: Mike Radowsky

Die Kirwa im Amberg-Sulzbacher Land ist in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden. Als gutes Praxisbeispiel geehrt, steht sie nun auf einer Stufe mit anderen Formen des immateriellen Kulturerbes in Bayern, wie zum Beispiel den Passionsspielen Oberammergau, der Landshuter Hochzeit oder dem Drachenstich zu Furth im Wald. Immaterielles Kulturerbe zu sein, das ist eine bedeutende Anerkennung für das Engagement aller Beteiligten, aller Kirwaleit, die in der Organisation beteiligt sind und aller, die hinter den Kulissen wirken, damit seit vielen Jahrzehnten jedes Jahr über 100 Orte im Landkreis Kirwafeste mit zehntausenden Besucherinnen und Besuchern feiern können. Ihr Wissen, ihr Können, ihre Leidenschaft, ihr ehrenamtliches Wirken für ihre Gemeinschaft waren es, die die bayerische Expertenjury für immaterielles Kulturerbe überzeugt haben.

Nun ist die Kirwa im Amberg-Sulzbacher Land also als gutes Praxisbeispiel im Landesverzeichnis für Immaterielles Kulturerbe vertreten. Aber was bedeutet das eigentlich konkret? Was heißt es Kulturerbe zu sein?

Ein Schaukelstuhl als Zeitmaschine

Ich habe heute eine Zeitmaschine in Form eines alten Schaukelstuhls mitgebracht. Sie kann vielleicht illustrieren, was es bedeutet, Kulturerbe zu sein. Sie sagen jetzt, Zeitmaschine? So ein Unfug, das ist ja nur ein alter Schaukelstuhl. Nur ein alter Schaukelstuhl? Für Sie vielleicht – für mich nicht. Für mich ist dieser alte Schaukelstuhl etwas Besonderes – etwas, das tatsächlich einer Zeitmaschine ähnelt.

Dieser Schaukelstuhl war nämlich der Schaukelstuhl meiner Großmutter. Er ist zeitlebens in ihrer Wohnung gestanden. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen zählt, wie meine Oma in diesem Stuhl gesessen ist und mir Geschichten von früher erzählt hat, vom Krieg, von ihren Eltern, von ihrer Schulzeit, während ich vor ihr auf dem Boden gespielt habe. Später bin ich selber jedes Mal, wenn ich in ihrer Wohnung war, in diesem Schaukelstuhl gesessen, der eigentlich gar nicht so bequem war, mit seiner harten Sitzfläche aus Holz und den ungepolsterten Stäben seiner Rückenlehne. Aber das war mir egal, ich saß trotzdem gerne dort, genau wie meine Großmutter. Sogar nachdem ich nach Regensburg gezogen war, um zu studieren und längst eigene, billige IKEA-Möbel im aktuellen Design in meiner Wohnung stehen hatte, bin ich jedes Mal zu Hause doch wieder gern in diesem Schaukelstuhl gesessen. Auch wenn er mir vielleicht schon altmodisch vorkam, ein wenig aus der Zeit gefallen. Aber groß darüber nachgedacht hatte ich ohnehin nie.

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Ein bedeutendes Erbe?

2005 ist meine Oma im Alter von 81 Jahren verstorben. Einige Tage vor ihrem Tod sagte sie mir noch, dass ihr alter Schaukelstuhl jetzt mir gehören würde. Sie hatte ihn mir vererbt. In den Tagen nach ihrem Tod geschah etwas Merkwürdiges. Der Schaukelstuhl begann sich vor meinen Augen zu verändern. Bis dahin war er für mich immer ein gewöhnliches Möbelstück gewesen, in dem ich zwar gerne meine Zeit verbracht, über das ich aber nie groß nachgedacht hatte. Er war stets da, solange ich denken konnte. Er stand eben so rum, der alte Kram von der Oma, irgendwann aus den 1950er-Jahren.

Aber in dem Moment, in dem sie ihn mir vererbte, begann ich ihn mit neuen Augen zu sehen. Erbe verwandelt die Dinge, die uns umgeben. Zu erben verleiht den scheinbar vertrauten Aspekten unseres Lebens eine völlig neue Bedeutung. Mir ging es so: ich begann plötzlich über diesen Schaukelstuhl nachzudenken. Mit einem Mal war er ein Erinnerungsstück geworden, etwas das ich nicht nur mit meiner Großmutter verband, sondern das plötzlich auf ganz seltsame Art auch Erinnerungen an meine Kindheit, an mein Leben, an unsere gesamte Familie in den Achtziger- und Neunziger-Jahren weckte. In diesem Schaukelstuhl, der sich nun in ein Erbstück verwandelt hatte, vergegenwärtigte sich plötzlich meine eigene Vergangenheit, ein großer Teil meiner Identität.

Und das stellte mich vor eine weitere Frage: was soll ich mit diesem Erbe jetzt anfangen? Fest stand: Omas Schaukelstuhl kommt mit mir – auch wenn er so gar nicht zu den modernen, kühlen IKEA-Möbeln in meiner Studentenbude passte. Aber weggeben? Das kam nicht in Frage. Und tatsächlich blieb er weiter gut in Benutzung. Denn im Gegensatz zu den austauschbaren Billy-Regalen hatte dieser Schaukelstuhl eine Geschichte. In ihm fand ich mich wieder, er bot mir Orientierung in einer für mich zunächst recht ano­nymen, unvertrauten Großstadt. Aber trotzdem hatte ich versucht, ihn ein wenig zu modernisieren, so dass er besser in meine eigene, kleine Welt passte. Ich polierte ihn ordentlich, kümmerte mich um ein paar größere Schrammen, entfernte den Staub, der sich zwischen den Stäben der Rückenlehne angesammelt hatte. Und ich bestellte mir im Internet ein Sitzkissen in den Farben meiner Wohnung, so dass er nicht mehr ganz so unbequem war und meinen aktuellen Bedürfnissen besser gerecht würde.

Von Generation zu Generation

Inzwischen habe ich selbst zwei Kinder und eine größere Wohnung. Und auch der Schaukelstuhl meiner Oma, den ich in der Zwischenzeit immer wieder mal ein wenig aufgehübscht und repariert hatte, hat noch immer seinen Platz in meinem Leben und nun auch im Leben meiner Kinder. Mit dem Unterschied: nun bin ich derjenige, der abends drinsitzt und vorliest und meine Kinder liegen auf dem Sofa daneben und versuchen einzuschlafen (was meist eher schlecht gelingt). Und da stelle ich fest: Moment mal, der Schaukelstuhl, das Erbstück meiner Oma, beginnt gerade wieder, sich zu verändern. Ich ertappe mich dabei, wie ich darüber nachdenke, welcher meiner kleinen Söhne ihn vielleicht später einmal haben will. Ich bemerke, wie ich versuche, ihnen die Bedeutung zu vermitteln, die dieses Erbstück für mich hat. Und ich fühle, dass es mir wichtig ist, Ihnen diese Erinnerungen, dieses Wissen, diese Familiengeschichte, kurz gesagt, dieses immaterielle Erbe, das an diesem einfachen Schaukelstuhl hängt, weiterzugeben, damit auch sie es weiter in ihre eigene Zukunft tragen können.

Denn auch das heißt es, zu erben und zu vererben – wir übereignen nicht nur die Dinge selbst an unsere Nachkommen, und wir erben nicht nur die materiellen Gegenstände. Im Moment, in dem etwas zum Erbe wird, offenbart es sich als Träger von immateriellen Bedeutungen, von Wissen, von Erfahrungen und Erinnerungen. Ein Erbstück, wie dieser Schaukelstuhl wird so zu einer Art Zeitmaschine, in der sich in der Gegenwart die Erinnerungen aus der Vergangenheit und die Wünsche und Erwartungen an die Zukunft treffen.

Kirwa, ein alltägliches Phänomen?

Aber nicht nur Individuen vererben Dinge und verwandeln so einen Teil der gewohnten Alltagswelt in etwas Bedeutsames. Auch Gruppen, Gemeinschaften, Kulturen können erben und vererben. Und so ist auch die Kirwa im Amberg-Sulzbacher Land eine Art Zeitmaschine, in der sich in der Gegenwart Traditionen und Geschichte mit Erwartungen, Plänen und Hoffnungen für die Zukunft begegnen. Seit ihrer Aufnahme in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes – so ist mein Eindruck – hat auch sie sich ein wenig verwandelt. Genau wie der Schaukelstuhl meiner Oma früher für mich immer etwas Gewöhnliches war, etwas das immer da war, habe ich das Gefühl, dass auch die Kirwafeiern in der Bevölkerung oft als etwas völlig Alltägliches betrachtet wurden. »Kirwa gibt’s scho immer!« »Jedes Dorf hat seine Kirwa!« »Kirwa, das gehört einfach dazu!« – Das sind Aussagen, die man überall hört. Aber groß über die Kirwa nachdenken? Nein. Gerade in der Oberpfalz herrscht ja ohnehin manchmal die Tendenz vor, das eigene Licht ein wenig zu bescheiden unter den Scheffel zu stellen und vieles, von dem, was an Potenzialen in der Region schlummert, etwas unter Wert zu verkaufen. Wenn man einen Oberpfälzer auf etwas Einzigartiges anspricht, sie kennen es wahrscheinlich, was kommt dann zurück: »Ah gäi, des ist doch nix. Des ist doch nix B’sonders. Ah gäi, des brauchts’ doch niad. Ah gäi, so a alt’s G’raffl. Es ist halt a Kirwa, des is ja nix B’sonders.«

»Es ist halt a Kirwah des is ja nix B’sonders

Kirwa in Ursulapoppenricht

Foto: Mike Radowsky

Hartnäckige Initiatoren

Es waren im Wesentlichen zwei Personen, die erkannten, dass Kirwa aber doch etwas Besonderes ist. Dass es lohnt, sich auf einer tieferen Ebene mit ihren Traditionen, mit ihrer Identität stiftenden Bedeutung in der Gegenwart und mit ihren Potenzialen und Perspektiven für die Zukunft auseinanderzusetzen. An dieser Stelle möchte ich ihre Rolle doch zumindest einmal gesondert erwähnen. Als Regina Wolfohr, Abteilung Marketing, Tourismus und Kultur im Landratsamt, und Dieter Kohl, seines Zeichens Kirwaveteran und Kirwatanzexperte, mich am 7. Januar 2020 mit der Frage kontaktierten, ob denn nicht die Kirwa auch Chancen auf eine Auszeichnung zum immateriellen Kulturerbe hätten, war ich auch erstmal skeptisch. Die gleiche Reaktion erstmal: »Kirwa, na ja, das ist ja nichts Besonderes. Das ist ja hier auf den Dörfern überall ganz normal.« Aber Kulturerbe? Ich war erstmal zurückhaltend.

Aber die beiden waren hartnäckig. Wir diskutierten in den Wochen darauf regelmäßig, und plötzlich, im Zuge der Diskussionen über Kulturerbe, begann sich auch die Kirwa, genau wie der alte Schaukelstuhl, für mich zu verwandeln. Mir wurde durch Dieter und Regina klar, welche gewaltige Bedeutung, die über 100 Kirwafeste im Landkreis für die Bevölkerung hatten – als Identität stiftendes Moment, als Faktor, an dem sich Lokalstolz festmachte. Gerade für die junge Generation bietet die Kirwa oft die erste Möglichkeit, selbst für die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen, etwas selbständig zu organisieren. Es ist also auch ein Faktor, der die Bedeutung von Solidarität und Demokratie für die Dörfer und Kleinstädte vergegenwärtigt, denn die Kirwa verlangt Partizipation und ehrenamtliches Engagement. Sie bringt die Generationen zusammen, stiftet Orientierung und geteilte Werte, überwindet Grenzen: Jeder – egal ob als Kirwapaar oder hinter den Kulissen – darf mitmachen.

Auch die vielfältigen Traditionen hinter den Kirwafesten wurden mir nun deutlich. Fast jedes Dorf verfügt über eigene, ganz individuelle Brauchelemente, die jede Kirwa zu etwas Besonderem machen und dem ganzen Phänomen eine großartige, ja fast anarchische Dynamik verleihen. Die seit meiner Kindheit scheinbar so vertraute Kirwa war mir, je mehr wir über das Thema Kulturerbe diskutierten, wieder fremd und faszinierend geworden. Sie hatte für mich als immaterielles Kulturerbe eine neue Bedeutung gewonnen.

Reparatur am offenen Herzen

Regina Wolfohr und Dieter Kohl, die Initiatoren der Kirwa-Bewerbung, illustrieren aber noch einen anderen Aspekt, der mit dem Thema Erben einhergeht. Denn Erbe verwandelt nicht nur die Dinge, verleiht ihnen eine neue Bedeutung, Erbe verwandelt auch die Menschen selbst. Denn als Erben wird uns auch auferlegt, Verantwortung für die Dinge zu übernehmen, die auf uns zukommen. Es genügt nicht nur, das Erbe anzunehmen, nein, wir fühlen, dass wir uns nun um das Erbe kümmern und all das Wissen, das Können, die Geschichte für die Zukunft fit machen müssen, damit es weiter relevant bleibt. Dazu gehört auch, dass man es von Zeit zu Zeit ein wenig entstaubt und wie bei einem alten Möbelstück mit kritischem Blick ein paar Schrammen und Dellen repariert, die heute ein wenig hässlich wirken. Denn einige alte Kirwasprüche und Kirwalieder, etwa mit rassistischem oder sexistischem Tonfall, haben auf keiner Bühne mehr etwas verloren. Auch die politische Vereinnahmung von Kirwafesten in der Zeit des Nationalsozialismus und damit verbunden die Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsteile aus dem öffentlichen Festgeschehen sowie die Verbreitung von antisemitischen Stereotypen in manchen Liedern und Versen aus diesen Jahren, gilt es noch intensiver aufzuarbeiten. Immaterielles Kulturerbe zu sein, verlangt hier Verantwortung zu übernehmen und das Angestaubte oder aus der Zeit gefallene, behutsam, aber kritisch reflektiert zu modernisieren, um es relevant und offen für alle zu halten.

»Gell, sowas habt’s ihr in der Stadt nicht!«

Regionale Identität

Die Organisatorinnen und Organisatoren hinter dem Antrag haben sich im Prozess der Kulturerbe-Bewerbung dieser Verantwortung gestellt, aber sie hatten Unterstützung. Mit einer Zeitungsumfrage hatten sie erfolgreich von Beginn an die Bevölkerung und fast alle Trägergruppen eingebunden. Der ganze Landkreis hatte an diesem Reflektionsprozess Anteil. Es sind alte Erinnerungen ausgepackt worden, es sind neue Netzwerke entstanden, Studierende aus Regensburg führten im Landkreis Interviews, es wurden vergessene Geschichten wiederentdeckt, Schulen waren im Rahmen ihres Unterrichts involviert, eine ganze Reihe von Kulturerbe-Expertinnen und Experten kam nach Amberg-Sulzbach, um sich über Kirwa und Kulturerbe zu unterhalten. Im Bewusstsein des ganzen Landkreises begann die Kirwa so noch während der Bewerbungsphase eine neue Bedeutung und eine neue Wertschätzung zu erfahren und sich in etwas zu verwandeln, für das man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Etwas, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Region begegnen.

Denn die Aufnahme der Kirwa in die Liste des Immateriellen Kulturerbes bietet die Chance eine Diskussion über die Zukunftspotenziale der über 100 Kirwafeiern für die gesamte Region anzuregen, etwa als weicher Standortfaktor der ländlichen Entwicklung, der Lebensqualität bietet und Orientierung stiftet. Aber auch als Faktor der Integration in einer hochmobilen Welt. Denn Kirwa bedeutet auch Engagement für die Gemeinschaft, sie bietet zahlreiche Möglichkeiten, zu partizipieren, starke Netzwerke vor Ort – zwischen Firmen, Kommunalpolitik, Vereinen, Jugendlichen und Neuzugezogenen – zu knüpfen. Sie kann so ein integratives Moment sein, das Zugehörigkeit bietet, aber auch ein Faktor, der gerade wirtschaftlich schwächere ländliche Gemeinden vitalisiert und ihnen das ganze Jahr über Leben verleiht, Selbstbewusstsein und auch einen gewissen Stolz auf das Eigene. Eine Anekdote, die ich an dieser Stelle immer einflechte, stammt von einer Exkursion, die ich vor einigen Jahren mit einer Gruppe Studierender zur Kirwa in Illschwang veranstaltet hatte. Das erste, was die Illschwanger Kirwaleit den »Unileuten« aus Regensburg entgegenriefen, war: »Gell, sowas habt’s ihr in der Stadt nicht!« Wo Kirwa gefeiert wird, wohnt man eben gerne, da hat man etwas, an dem man das Jahr über mitwirken kann – auch wenn die Arbeitsplätze vielleicht eher in Nürnberg oder Regensburg liegen und der öffentliche Nahverkehr nur in Vollmondnächten fährt. Kirwa bedeutet auch Resilienz, Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten – über eine starke Verwurzelung in der Region, über Partizipation, über Wissen, Können und ein Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft und ihre Zeitmaschine Kirwa.

Kirwapaar in Lintach

Foto: Mike Radowsky

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